Dass etwas für uns zu einer „letzten Klarheit“ wird, zu einer völligen Gewissheit, fraglosen (also bewährten) Überzeugung, absoluten Erkenntnis von Wirklichkeit bzw. Wahrheit, belastbarem Glauben… wie kommt es dahin? An sich ist das die Basis für alles wirkungsvolle Handeln, weil wir Boden unter den Füßen haben.
So lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt ⟨und damit gereinigt⟩ vom bösen Gewissen…
Hebräer 10,22
In meinen Jahren als Pastor habe ich entdeckt, dass die meisten Christen, mit denen ich es zu tun hatte, keinen Boden unter den Füßen hatten und nicht wirkungsvoll handeln konnten. Sie erlebten keine „völlige Gewissheit“ in ihrem Glauben, sondern permanente Zweifel. Eine Erleuchtung des Herzens, also des innersten Wesens, zu jener göttlichen Wahrhaftigkeit eines Lebens im Licht (Klarheit) und der dazu nötigen Reinigung des Gewissens (Entlastung), schien nicht geschehen zu sein, soweit ich das von außen beurteilen konnte. Oder es war doch einmal erfahren worden, aber dann versandet.
Sie bekannten zwar ihren „Glauben“ und gingen in die Gemeinde, aber ihre christliche Erkenntnis und Erfahrung ging nicht so tief, dass es je zu einer „letzten Klarheit“ gekommen wäre. Und das in keiner Hinsicht oder anders herum gesagt: in Bezug auf alles. Verwirrung und Verirrung schienen der allgemeine Standard zu sein. Unter diesen Umständen war die Gemeinde insgesamt verunsichert und missionarisch ineffektiv.
Tatsächlich empfand ich die Christlichkeit bei vielen geradezu als Fassade, also als etwas recht Oberflächliches. Was hinter dem Vorhang liegt, schien vielen gar nicht bewusst zu sein, auch kein großes Interesse daran zu bestehen. Sie verwendeten ihre Kraft darauf, diese äußere Fassade aufrecht zu halten und ein christliches Leben zu inszenieren, wie immer sie sich das vorstellten oder die Gemeinde es von ihnen erwartete, aber nicht, um die Wahrheit zu leben. Was das Leben, welches uns zu vermitteln Jesus in die Welt gekommen ist, überhaupt sein soll, schien mir vielen gänzlich unklar zu sein. In ihrem Alltag – jenseits der christlichen Veranstaltungen – fand es m. E. einen nur wenig bemerkbaren Niederschlag. Viele führten eine Art „Doppelleben“. Eines war „christlich“ für das christliche Umfeld der Gemeinde, das andere profan für das alltägliche Leben in der Welt.
In meiner Schulkasse gab es mehrere Christen, aber ich hatte jahrelang nichts davon gemerkt – bis ich mich bekehrte und zu meiner höchsten Überraschung einige Mitschüler in den Gemeinden wiederfand, die ich kennenlernte. Ihr Leben war perfekt angepasst. Manche sahen sogar eine Gnade Gottes darin, dass sie diese chamäleonartige Anpassung so perfekt inszenieren konnten. Denn schließlich vermieden sie auf die Weise viele Konflikte – sowohl mit den christlichen als auch den weltlichen Ansprüchen. Beiden Systemen genügte die äußerliche Anpassung. Was hinter dem Vorhang lag, blieb verborgen – auch den geübten „Schauspielern“ selbst.
Ich nenne das Äußere den Schein und das Innere das Sein. Die äußere Welt vergeht, die innere bleibt. Der Heilige Geist führt uns vom Schein zum Sein, von außen nach innen.
Wenn die großen Lebenskrisen kommen, stellt sich die mangelnde Seins-Verbundenheit als gravierende Identitätslosigkeit dar. Sie entsteht aufgrund mangelnder Wurzeln in der Wirklichkeit. Wir entdecken in der Krise, dass wir nicht sind, die wir meinten zu sein. Zerbricht die äußere Hülle, kommt zum Vorschein, was dahinter oder darunter liegt. Dann kommt für viele die große Ernüchterung darüber, dass sie über ihr wahres Selbst keine Ahnung hatten und sich selbst unfassbar fremd sind.
Nun lässt Gott zum Entsetzen vieler Gläubigen regelmäßig diesen Zerbruch zu, denn er will uns ins Licht führen, in die Wahrheit, in das reine Gewissen und die „volle Gewissheit des Glaubens“. Dorthin, wo wir freiwillig nicht hingehen, in jene verdrängten und ausgeblendeten Bereiche unseres Seins, die uns unklar und unheimlich sind. Die Tiefe des menschlichen Herzens ist unermesslich. Immerhin kann GOTT darin wohnen…
Was wir auf der äußeren, sichtbaren, psychisch-mentalen Ebene von Gott erkennen, ist fragmentarisch und unterliegt unterschiedlichen Deutungen. Von Klarheit kann keine Rede sein. Auf der geistlichen Herzensebene darunter (oder darüber, wo immer wir diese Ebene verorten wollen), wohin Gott uns führt, verlassen wir die Ebene der Phänomene und kommen zu einer viel umfassenderen Erkenntnis der Wirklichkeit. Sie ist dem von Äußerlichkeiten und der Inszenierung des Pseudo-Ichs geprägten Verstand zunächst unverständlich. Sie ist „ganz anders“. Dort können wir eine objektivierte Sicht gewinnen, die sich von der subjektiven Erfahrung der äußeren, weltlichen Realität extrem unterscheidet. Die Seins-Wirklichkeit steht konträr zur Schein-Wirklichkeit. Die Seinswirklichkeit IST, die Scheinwirklichkeit „tut-so-als-ob“.
Uns Illusion als Wirklichkeit zu verkaufen, darin hat die Welt sehr lange Erfahrung und verfügt heute über technische Möglichkeiten jenseits unserer Vorstellungskraft. Der Mensch wird in seiner Wahrnehmungsfähigkeit immer weiter eingeschränkt und manipuliert. Viele können sich überhaupt nicht mehr konzentrieren, sie leben wie in einer Wachhypnose[1]. Unter dem heutigen digitalen Dauerfeuer von Fernsehen, Internet und Handy scheinen immer mehr Menschen in diesen hypnotischen Zustand zu geraten, in dem sich ihr Denken bedenklich reduziert auf den reinen Selbsterhalt und die grundlegendsten dafür nötigen Fertigkeiten. Der Besuch eines Gottesdienstes am Wochenende kann durchaus dazu gehören. Automatisierte psychische Programm steuern den Menschen durch die Veranstaltung, ein Wachwerden ist nicht nötig und wird in der Regel auch nicht erwartet. Die Liturgie gleicht sich von Sonntag zu Sonntag bis ins Detail. Dadurch ist eine Anpassung besonders leicht und hat aufgrund der Dauerwiederholung sowieso schon einen einschläfernden Charakter.
Die Welt treibt uns immer tiefer in die Trance, der Geist aber in die Erweckung. Möglicherweise sind krasse Maßnahmen nötig, um uns aufzuwecken. Viele Menschen werden von Gott auf die eine und andere Weise „aus dem Verkehr gezogen“, um zur Besinnung zu kommen. Sie werden erst irritiert, wenn das nicht reicht, kommt eine Art Demontage des Scheinlebens dran. Die Befreiung von uns selbst in der inszenierten Form zu uns selbst in der göttlichen Variante gestaltet sich als tief- und weitgehend. Am Ende des Prozesses steht die „letzte Klarheit“, das „wahrhaftige Herz in voller Gewissheit des Glaubens, gereinigt vom bösen Gewissen“. Die Erfahrung dieses Zustandes von Reinheit, Gewissheit und Wahrheit ist nur als selig zu beschreiben.
[1] Bei einer durch hypnotische Verfahren induzierten Trance entsteht eine tiefe Entspannung bei gleichzeitiger Wachheit. Die hypnotisierte Person ist weiterhin fähig, sich willentlich zu bewegen und sinnzusammenhängende Sätze zu sagen, ihre Aufmerksamkeit ist jedoch extrem eingeschränkt und auf wenige Inhalte ausgerichtet. Als Besonderheit gilt eine Wachhypnose, in der eine Person sich zwar in einem tranceähnlichen Zustand befindet und hierbei sogar ein Rapport besteht, sie aber trotzdem augenscheinlich hellwach ist. Die Person bewegt und verhält sich so, dass für ungeübte Beobachter kein Unterschied zum normalen Wachzustand erkennbar ist. (Wikipedia, Stichwort „Trance“, 28.3.23)