Ihr werdet aber sogar von Eltern und Brüdern und Verwandten und Freunden überliefert werden… (Lukas 21,16)
Zuletzt hatten wir begonnen, anhand von Judas das Thema „Verrat“ zu behandeln. Da es eine so grundlegende Dimension menschlicher Tragödie betrifft, will ich noch ein paar mehr Punkte ansprechen, die m. E. hinter diesem Fehlverhalten stehen. Das Thema Verrat betrifft ja nicht nur das Verhältnis zu Jesus, zur Gemeinde und den Brüdern, sondern jeden Beziehung.
Kinder fühlen sich von ihren Eltern verraten und umgekehrt Eltern von ihren Kindern. Geschwister untereinander, Männer von Frauen und umgekehrt, Ehepartner voneinander, Arbeitnehmer von Arbeitgebern, ja, einfach jede Beziehungsebene ist davon betroffen und häufig wie „bezaubert“ und „gelähmt“, was ich im letzten Beitrag beschrieben habe.
Dort habe ich schon einige Punkte genannt, die der Teufel gerne triggert, um uns einen Verrat als „gut und richtig“ zu verkaufen. Es scheint für das „Gemeinwohl“, die „höhere Sache“, die „Wahrheit“ einfach nicht anders zu gehen, als einen Verrat zu begehen. Hinterher kommt dann das böse Erwachen.
Nun war Jesus durchaus nicht jedem zu Willen, aber verraten hat er niemanden. Dennoch fühlten sich viele von ihm verraten, denn er erfüllte nicht ihre Erwartungen. Viele haben Anstoß an Jesus genommen und schrien erst „Hosanna!“ und bald darauf „kreuzige!“.
Zwei Begriffe will ich hier noch ins Feld führen, die mir erhellend zum Thema „Verrat“ sind: Idealismus und Projektion.
Gerade der religiöse Idealismus, der in der Gemeinde eine heile Welt sucht, eine Art Paradies voller Frieden und Liebe – und eine ebensolche Leiterschaft –, wird von der Realität heftig ernüchtert.
Es gibt sie, die „Gemeindehopper“, die von einer Gruppe zur anderen wandern in der Hoffnung, die wirkliche, wahre, göttliche Gemeinde zu finden, wo endlich alles stimmt. Aber die gibt es nicht, denn die Gemeinde ist immer ein Spiegel von UNS, denn WIR sind ja die Gemeinde. So viel oder wenig Paradies wir in uns haben, so viel davon werden wir in der Versammlung einbringen und das Niveau der Herrlichkeit entweder drücken oder heben.
Hand in Hand mit dem Idealismus, der uns eine Gemeinde erst überzogen erheben lässt (Hosanna!), um sie dann, wenn die Ernüchterung darüber kommt, dass da auch nur Menschen so wie wir sind, zu stürzen (kreuzige!), geht die Projektion. Wir projizieren unsere Wünsche nach „heiler Welt“ und unsere ungeheilten Verletzungen auf andere, auf die Gemeinde, vor allem die Leiter, weil sie Autoritätsfiguren sind. Unbewusst erhoffen wir von ihnen die Liebe und Aufmerksamkeit, die Güte und Fürsorge, die uns etwa bei unseren Eltern fehlten. Wenn sich dann herausstellt, dass sie „sich auch nur um sich selbst kümmern“, dann wandelt sich unsere Liebe in Hass.
Wir projizieren das Elend und die Traumata unseres ganzen Lebens auf die Leiter, ob Pastor oder Hauskreisleiter, auf die Kleingruppe und Gemeinde, die wir dann als „lieblos“ und „falsch“ verwerfen. Wir setzen mit ihnen nahtlos unsere Geschichte fort, mit der sie ursächlich nichts zu tun haben, um dann sagen zu können: „Siehst du, diese Leute, Brüder, Leiter, Geschwister, Freunde, Ehepartner, usw. sind auch nicht besser! Auch sie sind nur Blender und Täuscher – zu Recht hasse ich sie!“.
Idealismus und Projektion zu schüren, das sind sehr beliebte Methoden des Teufels, denn wir werden uns kaum dessen bewusst, wie sehr wir uns damit der Eigenverantwortung, der Reife und dem Realismus entziehen, um ein perfektes Ego-Theater zu inszenieren, in dem wir stets das Opfer und die anderen stets die Täter sind.