Die große Selbsttäuschung

Denn ihr belastet die Menschen mit schwer zu tragenden Lasten, und selbst rührt ihr die Last nicht mit einem eurer Finger an. (Lukas 11,46b)

Wie aktuell das ist! Ob Regierung oder Religion, immer werden zunehmende „Lasten“ ausgedacht und auferlegt, die jedoch nicht für die Oberen gelten, die davon ausgenommen sind. Frei nach dem Motto: Vor dem Gesetz sind alle gleich, aber manche gleicher. Die Wohlhabenden können sich die Steuer-Experten und Anwälte leisten, die Ärmeren wandern in den Bau oder auf die Sünderbank.

Anscheinend findet Jesus diese Ungleichheiten unerträglich. Wir sehen geradezu den schriftgelehrten Zeigefinger der Pharisäer erhoben vor uns, die uns sagen, was wir zu denken, zu sagen, zu glaube, zu beten und zu geben haben, welche Stellen uns kontrollieren betreuen und ausnehmen versorgen, ohne die wir auch nicht leben und keinesfalls in den Himmel kommen können.

Wir können uns fragen, woher es eigentlich kommt, dass viele Gläubige ihr komplettes Christsein als eine einzige Last empfinden und nicht als eine Lust; als eine nie endende Überforderung mit so hohem Anspruch an Moral und Ethik, dass sie niemals auch nur davon träumen können, gut dabei weg zu kommen.

Die Welt ist ihnen schon „Last“ genug, jetzt kommt Gott mit weiteren umfassenden und endlosen Forderungen hinzu, die „freudig“ zu erfüllen sind, weil wir ja so wahnsinnig dankbar dafür sind, dass Gott uns durch Jesus die Schuld erlassen hat. Ja, da stehen wir dann ewig in seiner erlassenen Schuld, haben ein immer schlechtes Gewissen, erreichen die gesetzten Standards nicht und könnten gleich unser Zelt im Beichtstuhl aufschlagen. Also üben wir ein Leben der Heuchelei ein, denn anders geht es einfach nicht.

Am Sonntag machen wir gute Miene zum Gottesdienst, im Rest der Woche auf der Firma zu deren Konditionen. Es gilt, irgendwie durchzukommen und das Gesicht nicht zu verlieren. Eigentlich gefällt uns unser so belastetes und verlogenes Leben nicht wirklich, aber man gewöhnt sich daran und es gibt keine Alternative dazu – außer wir machen Karriere und stoßen zum Klub der Oberen und Gutverdiener dazu, die sich von alledem freikaufen können. Denn in unserer Kultur geht alles durch Geld – auch in der Kirche.

Vielleicht schütteln meine Leser jetzt den Kopf, weil das bei ihnen alles ganz anders ist. In ihrer Gemeinde gibt es kein Oben und Unten, keine ungleiche Lastenverteilung, auch kein Ansehen der Person. Eine glückliche Familie in Christus – frei von gesetzlichen Schriftgelehrten und anmaßenden Pharisäern. Ist das so?

Wir dürfen uns nicht täuschen, das EGO produziert immer Unterschiede, Gegensätze und Ungleichheit. Es polarisiert und spielt gegeneinander aus, es sucht Konflikte und Parteiungen, es braucht das Drama und verlogene Spiel, um nicht aufzufliegen und zuzugeben, dass es noch immer am Ruder ist und alles und alle – inklusive Jesus – für seine eigenen Zwecke belügt und missbraucht.

Die reiferen Christen wissen, wir haben den Pharisäer alle IN UNS – bereit, zu richten, bereit zu urteilen, bereit andere herabzusetzen, um sich selbst zu erhöhen.

Jesus „bedroht“ diese Instanz in uns, also halten wir ihn instinktiv auf Abstand, wissen alles über ihn, auch ohne uns ihm zu ergeben und auszuliefern. Vielleicht predigen wir sogar sein Evangelium und bilden uns ein, sehr gute Christen zu sein. Bis er uns nahe kommt. Bis er bei uns zu Hause vorbei kommt. Bis er in unserem Keller das Licht anschaltet…  

Jesus ist nicht mit der Betonung der Schriftgelehrten und Pharisäer auf die akribische Einhaltung der Äußerlichkeiten einverstanden, während das Innere vernachlässigt und übertüncht wird. Gerade diesen Menschen hält er den Spiegel vor, wie sehr sie sich über sich selbst täuschen – und damit auch alle anderen über sich täuschen.

Wir sehen dieses Drama in seiner christlichen Fortsetzung in den Worten Jesus an die Gemeinde von Sardes: „Du hast den Namen, dass du lebst und bist tot.“ (Offb. 3,2), und an die Gemeinde von Laodicea in Offb. 3,17: „Weil du sagst (meinst), ich bin reich und bin reich geworden und brauche nichts, und nicht weißt, dass du elend, bemitleidenswert, arm, blind und bloß bist, rate ich dir… Buße zu tun“ – also zur Besinnung zu kommen, das Schauspiel einzustellen, echt zu werden…