Altes vergeht – Neues wird

Der Schnee bedeckt weiß das Land und löst alle Konturen auf. Ich stapfe einen Weg entlang, der jedoch völlig mit der Landschaft verschmilzt, so dass kein Weg mehr zu sehen ist. Seine Ränder sind nicht mehr zu erkennen. Auch die Grenzen der Felder mit ihren verschiedenartigen Farben sind verschwunden, ja selbst der Horizont, indem sich der verhangene Himmel mit dem Weiß der Schneefläche nahtlos verbindet, hat sich aufgelöst. Ich laufe durch eine sonderbare Grenzenlosigkeit, Gleichheit, Weiss-heit. Hätte ich den vorgegebenen Weg nicht „blind“ gekannt, wäre ich von ihm abgekommen und hätte meinen ganz eigenen genommen….

Wer kennt nicht diese „Versuchung“, mal vom Weg abzuweichen, einfach querfeldein zu laufen, über eine Wiese und „irgendwohin“, wo man noch nicht gegangen ist, um zu finden, was man noch nicht gekannt hat. Tut man sowas einmal, dann erfährt man recht schnell, wie wenig man selbst von seiner nächsten Umgebung kennt.

Diese Schneelandschaft wurde mir zum Gleichnis für unsere Zeit: Die Wege enden, die Grenzen lösen sich auf, alte Gegebenheiten sind nicht mehr zu sehen. Es ist beunruhigend und begeisternd zugleich.

In der Ferne höre ich Kinderlachen. Ob das Kind in mir auch lacht und den Schnee nutzen will für allerlei Abenteuer? Ich spüre, es ist begraben unter „Corona“- Stress und Geld-Sorgen. Der Erwachsene in mir kalkuliert dies und das, überlegt, was alles „dringend“ zu tun ist. Für Kinderlachen hat er keinen Kopf. Der Schnee wird Arbeit machen: der Hof muss gekehrt und Wege gestreut  werden, es gibt Verordnungen dazu… Bäume und Sträucher wollen vor Schneebruch bewahrt werden. Der kleine Schneespaziergang ist schon „Luxus“ und darf nicht zu lange dauern. Sich in einem Spiel zu verlieren, einfach „irgendwohin“ zu laufen, den nicht vorhandenen Horizont zu erreichen… nein, das ist zu unvernünftig.

Blickt doch nicht immer zurück! Ich schaffe jetzt etwas Neues! Es kündigt sich schon an, merkt ihr das nicht?

Jesaja 43,18-19

Nun, vor lauter Altem sehen wir das Neue nur schwer. Wie der Schnee die Landschaft einhüllt und ihr eine Reinheit, Freiheit und Weite verleiht, die uns bezaubert, so brauchen wir es auch im Geist. Das gewohnte Bild, die gedankliche Welt-Konstruktion, die wir uns gebastelt haben, müssen einmal verhüllt werden, damit wir überhaupt etwas Neues und Anderes wahrnehmen können. Manchmal gehen Verhüllung und Enthüllung also Hand in Hand.

Gott deckt das eine zu, damit wir das andere finden. Es ruft uns vom Horizont her zu und erinnert uns – so zumindest meine Erfahrung – an das Kind in uns, das nicht bereit ist, den Sorgentod der Erwachsenen zu sterben, sondern seine eigene Welt zu erschaffen – gerne auch aus Schnee. Ein fabelhaftes Baumaterial! Die Zukunft gehört den Kindern…

Die Erwachsenen-Furcht besteht darin, dass hinter dem Gewohnten und Gehabten vielleicht „Nichts“ ist, das hinter der Fassade der vordergründigen Geschäftigkeit die Leere gähnt, die große Sinnlosigkeit und Nichtigkeit – und da ist auch was dran. Denn unsere ganze Welt ist nur aus Schnee gebaut, eine Fiktion, wie es gehen kann – eine Zeit lang – , aber nicht gehen muss. Wenn die Sonne aufgeht, wird es alles verschwinden.

Meiner Meinung nach liegt die ganze Hoffnung auf diesem „Anderen“ im Licht der Sonne. Aber das braucht den Kindermut, um nicht als gefährlich, sondern abenteuerlich begriffen zu werden, nicht als das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem.