Der weite Weg zur Wirklichkeit

Ein Frosch hatte ein Leben lang in einem Brunnen gewohnt.

Eines Tages sah er zu seinem Erstaunen einen anderen Frosch.

„Woher kommst du?“, fragte er.

„Aus dem Meer, dort lebe ich“, sagte der andere.

„Wie ist das Meer? Ist es so groß wie mein Brunnen?“

Der Meeresfrosch lachte. „Das ist nicht zu vergleichen“, sagte er.

Der Brunnenfrosch tat so, als sei er daran interessiert, was sein Besucher über das Meer zu berichten hatte. Aber er dachte: „Unter allen Lügnern, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, ist dieser hier zweifellos der größte und unverschämteste.“

Wie soll man einem Frosch im Brunnen vom Ozean erzählen oder einem Ideologen von der Wirklichkeit?

(A. de Mello)

Auf einer Vaterherztagung in Holland fragte mich der Leiter, was ich denn angesichts der vielen Bücher, die ich geschrieben habe, für die wichtigste Erkenntnis darin halte, bzw. die tiefste Motivation dahinter. Nun ist das nicht auf ein Thema oder einen Satz zu beschränken. Meine Bücher befassen sich ja mit vielen Themen. Aber – einmal danach gefragt – wurde mir klar, dass das Wort Wirklichkeit mich treibt. Es ist für mich ein zentrales Motiv für alles, was ich schreibe.

Jesus will uns die Wahrheit sagen – und die Wahrheit ist die Beschreibung der Wirklichkeit. Sie ist keine Philosophie, Meinung und Ideologie. Sie ist, was ist.

Idealismus ist die Fähigkeit, die Menschen so zu sehen, wie sie sein könnten, wenn sie nicht so wären, wie sie sind. Curt Goetz

Jesus holt uns aus den Idealismen, Illusionen, den Täuschungen und Fiktionen heraus in die Wirklichkeit. Ihm geht es keineswegs darum, dass wir religiös werden, sondern echt. Das ist nicht leicht, wir Menschen halten an Illusionen aller Art eisern fest, um nicht zu sehen, wie es wirklich um uns und unsere Welt steht. An wie viel Verkehrtheit haben wir uns gewöhnt und wie dick unser Fell gemacht! Wir spielen das Spiel verzweifelt weiter, weil wir uns der Realität so sehr entfremdet haben, dass wir den Weg zurück nicht finden.

Diese Situation wird m. E. extrem gut in dem Film MATRIX dargestellt. Die Fiktion ist in diesem Film das alles bestimmende Element. Die Menschen leben komplett in einer Simulation bzw. Scheinwelt, einer virtuellen Matrix. Die wirkliche Wirklichkeit ist erstens völlig unbekannt und zweitens absolut schockierend und herausfordernd – viel mehr als der Schein und die gewohnten „Programme“, in denen sich alle und alles bewegen. Klingt überaus biblisch! Auch dort wird konstatiert, dass „die Menschen die Finsternis mehr lieben als das Licht“. Sie machen sich lieber was vor, als den Realitätsschock auszuhalten, wenn das Licht angeht und alles sichtbar wird, wie es ist.

Nun ist auch die Kirche im Allgemeinen ganz durchdrungen von Traditionen der Irrealität und zahllosen Ideologien – nur eben auf „fromm“. Man kann sich ohne weiteres auch auf religiöse Weise und mit der Bibel in der Hand was vormachen. Gar kein Problem! Man kann auch alles, was man will, in die Bibel hineinlesen und sich eine völlig eigene Welt errichten, die ganz abgekoppelt von der Realität geistliche Enklaven bzw. Szenen bildet, die ihre eigene Sprache sprechen, eigene Kultur pflegen und sich selbst genügen. Man kann sogar so weit gehen, sie das „Reich Gottes“ zu nennen und jede Kritik daran als Sakrileg abzuweisen. Das ist elitär. Auch die Synagoge war das und stieß Jesus sogleich hinaus, als er sie betrat. Er passte weder in die gewohnte Struktur, noch in die Vorstellungen von dem kommenden Messias sowie all die anderen überzogenen, idealistischen Vorstellungen, die sich religiöse Menschen so gerne machen. Er war ganz anders. Er war der, der er ist und nicht der, den man haben wollte. Er war so dermaßen „echt“, dass in seiner Gegenwart alles Unechte und Aufgesetzte offenbar wurde. Und davon gab es mehr als genug. So störte Jesus den (Schein)Frieden ganz empfindlich.

Für viele, die sich für anständig und gerecht hielten, war Jesus unerträglich und musste schnellstens beseitigt werden. Dies sollte uns zu denken geben. Auch wir haben unsere gewohnten Strukturen und Vorstellungen von Jesus. Möglicherweise sind es die Vorstellungen des Frosches im Brunnen, der meint, er wüsste Bescheid. Vielleicht haben auch wir einen stark beschränkten Blick, halten uns aber für sehend. Darüber hinaus macht uns das Meer mit seiner donnernden Brandung Angst, weil wir uns so heimisch im überschaubaren, ruhigen Brunnen eingerichtet haben. Dann ruft Gott uns heraus, ans Ufer zu kommen, aber wir wollen lieber, dass er in unseren Brunnen kommt und beten entsprechend „Komm Herr!“

Es ist für Menschen die Herausforderung ihres Lebens, den gewohnten Kontext zu verlassen, aber genau dazu fordert Gott uns stets auf: Ob es der berühmte Auszug Israels aus Ägypten war oder die Aufforderung Jesu an seine Jünger, alles zu verlassen, und ihm zu folgen.

Jeder Versuch, Jesus dazu zu bringen, dass er doch bitteschön uns folgt und nicht wir ihm und dass er doch bitte in unser schönes Gemeindehaus am Brunnen einzieht und nicht wir zu ihm rauskommen, wird uns in der Beschränktheit des Brunnens gefangen halten.

Gott lässt sich so wenig manipulieren wie die Wirklichkeit. Der wahre Glaube ist immer ein Aufbruch und eine Grenzüberschreitung. So wie Petrus seinerzeit aus dem Boot stieg, weil Jesus nicht reinstieg. Auch alle Versuche, die Realität unseren Theologien anzupassen, werden zwingend scheitern und unendlich viel Schaden anrichten, wie zu allen Zeiten.

„Wahrheit ist der Name, den wir unseren wechselnden Irrtümern geben.“ (Tagore)

Die Wahrheit nicht wahrhaben zu wollen und sich zu weigern, in ihren Spiegel zu schauen, war das große Problem der Synagoge in den Tagen Jesu und daran hat sich bis heute nichts geändert. Es ist das Problem der Sünde überhaupt. In allen Bereichen stellt sich die Frage, was da wirklich los ist. Darum redet Jesus auch über alle Dinge mit uns, nicht nur über religiöse. Jedoch redet er häufig etwas ganz anderes, als wir meinen, in einer Sache zu sehen. Wir halten z. B. etwas für ein Kaninchen und Jesus sagt uns, es ist eine Schlange. Wir meinen, etwas sei klein, Jesus aber nennt es groß und umgekehrt. Manchmal meinen wir, verrückt zu werden, will scheinbar alles falsch herum ist. Und genau das ist es auch. Aber wir haben uns daran gewöhnt…

Gewohnheit und Routine sind die großen Feinde der Erweckung. Sie halten uns in jenem Schlaf, in dem wir träumen, wir seien wach. Wir bewegen uns in einer Art Endlosschleife, wo sich alles wiederholt. Das Ende davon ist Müdigkeit und Resignation. Es ändert sich trotz aller Versprechen doch nichts. Nicht wirklich.

Die Wahrscheinlichkeit, wach zu werden, steht in direktem Zusammenhang damit, wie viel Wahrheit sie ertragen können, ohne vor ihr wegzulaufen. (A. de Mello)

Auf der Vaterherz-Tagung wurden wir mit einigen eingefahrenen, christlichen Überzeugungen konfrontiert, über die wir im Allgemeinen nicht mehr nachdenken, so gewohnt sind sie uns. Das hat gut getan, reicht aber nicht, darum werde ich wieder hingehen, um weiter aus meinem Brunnen herauszukommen und in Richtung Meer zu gehen – in die unermessliche Weite der Wirklichkeit.