Der ewige Schriftgelehrte

Tagesgedanken Autor Frank Krause
Franks Tagesgedanken

Während aber das ganze Volk zuhörte, sprach er zu seinen Jüngern: Hütet euch vor den Schriftgelehrten… (Lukas 20,45-46)

Wenn man diese Worte liest und das Verhalten betrachtet, welches Jesus den Schriftgelehrten in den folgenden Versen bescheinigt, fragt man sich, wie es sein kann, dass es eben diese Leute sind, die immer noch die Begrüßung, den Vorsitz und die Ehrenplätze inne haben. Hat sich in 2000 Jahren denn gar nichts geändert? Nein, an diesem Punkt nicht wirklich, denn der Mensch ist noch derselbe, sein Ego vergreift sich an „hohen“ Titeln, Posten und Ämtern wie eh und je.

   Jesus sagt, diese Oberen „verschlingen die Häuser der Witwen und halten zum Schein lange Gebete“ (20,47). Trotzdem, dass jeder, der die Augen aufmacht, sehen kann, dass es sich genauso verhält, ändert sich am „System“, der „Matrix“ und Ideologie nichts Grundlegendes. Darum ist das Evangelium immer aktuell. 

   Jesus warnt zum wiederholten Mal das Volk und die Gemeinde (die Jünger) vor diesen „Ersten“, aber vergeblich, sie werden immer wieder gewählt, bestätigt, bezahlt und hofiert. Es ist ein erstaunliches Schauspiel. Tatsächlich wollen viele Leute genau so sein wie sie und nicht etwa wie Jesus. Jesus sagt zwar, „sie werden ein schwereres Gericht empfangen“ (20,47), aber selbst das schreckt offenbar niemanden ab, ihr Spiel zu spielen.        

   Gott hat kein Problem damit, uns alle „groß“ zu machen. Die Bedingung ist jedoch, dass wir es bleiben lassen, uns selbst zu erhöhen. Er vertraut seine Macht jenen an, die keine haben wollen, den „Sanftmütigen und Demütigen“. Denn die werden sie nicht missbrauchen.   

   Die Schriftgelehrten erhalten ein „schwereres Gericht“, weil sie Gott für ihre Zwecke instrumentalisieren. Sie benutzen das Heilige für ihre Selbsterhöhung. Klingt irgendwie teuflisch!

Dies ist ein sehr sensibler Punkt, denn er könnte uns auf die Idee bringen, dass Gott womöglich weder in diesen Synagogen/ Kirchen/ Tempeln/ Religionen wohnt, noch ihr Urheber ist. Alle diese Institutionen neigen doch dazu, uns religiös fremdzubestimmen, mit Gott zu erpressen und so ihren Vorgaben gefügig zu machen. Sie erklären uns mit Gottes Wort erst für unfähig und machen uns dann abhängig von einer ganzen Hierarchie von Verwaltern, denen wir auf die eine und andere Weise unterworfen sind, „wenn wir in den Himmel kommen wollen“. Das Perfide daran: Wer sie sind, das wissen wir nicht und wer wir sind, das interessiert sie nicht. Institutionen brauchen nicht UNS, sondern nur unseren Gehorsam, damit SIE funktionieren.   

   Es muss uns doch auffallen, dass Jesus keine dieser Institutionen kreiert oder legitimiert hat. Ihm das anzudichten, damit beschäftigen sich ganze Heere von Schriftgelehrten, die ausgebildet darin sind, ein jedes Wort theologisch so zu drehen, dass es in die jeweilige Ideologie ihrer Auftraggeber bzw. Organisation passt, damit die auch die Oberen bleiben und ihre Organisation weiter existiert.

   An keiner Stelle ruft Jesus uns auf, in solch eine Institution zu kommen, sondern er sagt: „Kommt her ZU MIR alle…“. Die Gemeinde, die er mit solchen Jüngern, die bei ihm sind, bildet, ist mit diesen Instituten nicht zu vergleichen. Lesen wir die Apostelgeschichte.

   Wir können uns direkt an Jesus wenden, es braucht keinen Umweg über eine Kaste, Kirche und Kontrolle. Das ist an sich ganz ungeheuerlich und wunderbar. Nur dass die meisten Menschen dieses Privileg nicht wahrnehmen… eben weil es so ungeheuerlich und wunderbar ist. Sie bleiben im sicheren Hort ihrer Institution, deren Experten, Priester und Gelehrte das Ungeheuerliche und Wunderbare für sie regeln sollen – von der Wiege bis zur Bahre. Wie schade! 

   Ich liebe diese kleine Geschichte von Anthony de Mello: 

Mein Freund und ich gingen auf die Weltmesse der Religionen. Keine Handelsmesse, eine religiöse Messe. Aber der Wettbewerb war genauso verbissen, die Reklame genauso laut. Am jüdischen Stand erhielten wir Prospekte, die besagten, Gott sei allbarmherzig und die Juden sein auserwähltes Volk. Am islamischen Stand erfuhren wir, Gott sei voller Gnade und Mohammed sein Prophet. Das Heil erlangt man, wenn man auf den einzigen Propheten Gottes höre. Am christlichen Stand entdeckten wir, daß Gott die Liebe sei und es außerhalb der Kirche keine Rettung gäbe. Nur ein Mitglied der Kirche läuft nicht Gefahr ewiger Verdammnis. Beim Hinausgehen fragte ich meinen Freund: „Was hältst du von Gott?“ Er erwiderte: „Er ist engstirnig, fanatisch und grausam.“ Wieder zu Hause fragte ich Gott: „Was hältst du von einer solchen Sache, Herr? Merkst du nicht, daß man dich jahrhundertelang in Misskredit gebracht hat?“ Gott sagte: „Ich habe die Messe nicht organisiert. Ich hätte mich geniert, auch nur hinzugehen.“

(aus: „Geschichten die gut tun – Weisheiten für jeden Tag“, Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2001)